Für drei Live-Lesungen des Glokale-Festivals hat Roua Horanieh Menschen mit internationalem Migrationshintergrund interviewt. „Wir arbeiten mit einer Kultureinrichtung in London zusammen, Counterpoints Art, sie fördern die kreative Arbeit von Migrant:innen und Vertriebenen und veranstalten jedes Jahr Flüchtlingswochen. Sie sind ein nettes Team, das uns sehr unterstützt, und sie haben vorgeschlagen, dass wir die Organisator:innen der Flüchtlingswochen in London, in Kambodscha, auf Malta und in Griechenland interviewen.“ Alle vier wurden gefragt, wie sie sich ihr Leben in 15 bis 20 Jahren vorstellen, und wie sie die Welt in 15 bis 20 Jahren sehen. Heute fällt es uns schwer, uns eine positive Zukunft vorzustellen, weil es so viele apokalyptische Nachrichten gibt. Aber wir sind auch abgelenkt von Alltagsproblemen wie der Miete und von zu viel Medienkonsum. „Ich denke, dass es wichtig ist, an dieser Krise unserer Phantasie zu arbeiten, denn wenn wir uns die Zukunft, die wir haben wollen, nicht vorstellen können, dann werden wir sie auch nicht bekommen. Im Moment sind wir daran gewöhnt, uns etwas nur dann vorzustellen, wenn es eine unmittelbare Verwendung hat, oder wenn es realistisch ist. Viele von uns haben die Fähigkeit verloren, sich etwas unabhängig von Effizienz und Produktivität auszumalen.“
Die vier interviewten Organisator:innen betrachten Flucht und Migration jedenfalls nicht aus einer besiegten Perspektive der Niederlage, sondern aus einem Blickwinkel der Aktivität und der positiven Energieflüsse, in denen sie etwas vorwärts bewegen können. Auch die anderen Interviewpartner:innen aus Rouas Londoner Community zeigen eine aktive Haltung und engagieren sich zum Beispiel im Bereich Kunst und Politik für den Klimaschutz. „Ich denke, man könnte aus dieser Sammlung von Interviews einfach eine Sammlung von starken Sätzen zusammenstellen, oder man könnte auch einen reflektierenden Text schreiben, nachdem man die Details durchgegangen ist.“ Wenn sie die beiden Fragen, die sie ihren Interviewpartner:innen gestellt hat, selbst beantworten soll, denkt Roua zunächst über ihr alltägliches Lebensumfeld nach. Der Londoner Stadtraum ist ein intensiver Ort, der viel bietet, aber auch teuer ist und viel Energie fordert, so dass wenig Zeit bleibt, sich einfach einmal hinzusetzen und zu entspannen. „Wir haben uns dafür entschieden, in einem sehr kleinen Wohngebiet zu leben, zu arbeiten und mit anderen etwas zu unternehmen. Wir wohnen im Osten Londons, wo wir alles gut zu Fuß erreichen können, und wo ich Zeit habe, nachzudenken, zu lesen, zu schreiben und da zu sein - das ist eine privilegierte Situation.“
Vor diesem Hintergrund stellt sich Roua eine Welt vor, in der unser Alltag mit seinen Anforderungen, Geld zu verdienen und die Logistik zu organisieren, nicht mehr stressig und anstrengend ist, so dass wir mehr Zeit für uns haben. „Das würde uns zu friedlicheren Menschen machen, und wir wären dann vielleicht viel eher in der Lage, reif, freundlich und respektvoll miteinander zu kommunizieren. Ja, Menschen können sehr dumm und sehr egoistisch sein, aber wir sind auch darauf eingestellt, gemeinsam das Richtige zu tun, und die digitalen Medien können dabei eine Unterstützung sein.“ Das Internet ist sicher eine Überforderung, sofern es viel Rauschen und Ablenkung erzeugt. Aber es verbindet die Menschen auch, es gibt uns Zugang zu allen Arten von Kultur und Information, und es erlaubt uns, verschiedene Meinungen zu vergleichen. "Ich denke, das ist eine Chance für uns, Veränderungen zu bewirken. Bücher wie Art Works von Ken Grossinger, Citizens von Jon Alexander oder Nomad Century von Gaia Vince zeigen, dass eine etablierte Ordnung schnell durch ein anderes System ersetzt werden kann. Wir müssen einfach aufhören zu denken, dass wir keine Hoffnung mehr haben und dass unsere Initiativen sinnlos sind. Wir müssen unsere Handlungsfähigkeit zurückgewinnen, aktiv werden und uns mit anderen zusammenschließen, um Veränderungen zu bewirken. Ja, es gibt sehr schwierige Themen, die wir angehen müssen, aber ich möchte gerne daran glauben, dass die Menschen zusammenkommen und die Probleme überwinden.“
Und die Rolle der digitalen Sphäre beschränkt sich dabei nicht nur auf den Bereich der Information, sondern sie umfasst auch neue Formen der Bildung von Gemeinschaften. Im Bereich Kunst und Kultur erleben wir immer häufiger, dass sich junge Musiker:innen über das Internet kennenlernen, ein Tool wie die Digitale Bühne nutzen, um von verteilten Orten aus gemeinsame Sessions zu spielen, und sich dann vielleicht Face-to-Face treffen, um zusammen an einem selben Ort zu proben und zu spielen. Und ebenso gibt es auch Theatergruppen, die Teile ihrer Probenarbeit im digitalen Raum leisten, oder in hybriden Formaten Akteur:innen aus anderen Orten oder Ländern einbeziehen. Und das Streaming der Events und Diskussionen auf dem Glokale Festival wird es umgekehrt Rouas Community in London, aber auch vielen Zuschauer:innen anderswo möglich machen, an den performativen Auseinandersetzungen mit dem Thema „Blick in die Zukunft“ teilzunehmen. „Es gibt so viele neue Möglichkeiten; es gibt Mittel und Bereiche, in denen man lernen oder sich vernetzen kann, die es sonst nicht geben würde. In diesen kleinen Schritten und Interventionen liegt eine große Kraft. Sie geben Hoffnung, und sie öffnen ein Fenster, in dem viel entstehen kann.“
Teil 1 des Gesprächs erschien im Newsletter Oktober 2023.