Thomas Jacobi und Johanna Pärli im Gespräch - Teil 1
von DigitaleBuehne_Admin
Einblick in das Digitale Bühne Netzwerk: Tönstör, Bern
Einblick in das Digitale Bühne Netzwerk
Johanna Pärli / Foto: Nikkol Rot
Tönstör, Bern
Thomas Jacobi und Johanna Pärli im Gespräch
Tönstör ist ein gemeinnütziger Verein, der sich der Förderung experimenteller Musikprojekte mit interdisziplinärem & interkulturellem Vermittlungscharakter widmet. Jeweils ein/e Musiker:in und ein/e Musikvermittler:in führen in Schulen Projekte mit Kindern und Jugendlichen aller Klassenstufen durch. Tönstör wurde 2008 von Barbara Balba Weber gegründet und 2017 nach zweijähriger Pause von der aktuellen Leitung neu aufgebaut. Von 2017 bis 2020 hat Tönstör 44 Musikvermittlungs-Projekte in Schulen des Kantons Bern durchgeführt, und für die Saison 2021/2022 ist ein weites Spektrum von Workshops und Projekten im Angebot. Thomas Jacobi ist bei Tönstör Geschäftsführer und künstlerischer Leiter, Johanna Pärli ist zuständig für Musikvermittlung & Produktion und hat den Co-Lead Digitale Musikvermittlung.
Stefan Winter. Euer Arbeitsfeld ist die experimentelle Musikvermittlung, was man nach zwei Seiten betonen kann: die Vermittlung experimenteller Musik, und die experimentelle Vermittlung von Musik.
Thomas Jacobi. Die Grundlage unserer Arbeit ist die Vermittlung der neuen Musik, der experimentellen Musik und der zeitgenössischen Musik, da werden auch Jazz, Hiphop, Rap und Pop mit hineingenommen. Es geht im Kern darum, den Kindern und Jugendlichen zu zeigen, dass die ganze Welt klingt, dass alles, was sie umgibt, einen Klang hat. Und wir zeigen ihnen einen extrem niederschwelligen Zugang zu diesen Klängen. Sie müssen keine Notationen und keine Musiktheorie kennen, und sie müssen auch nicht versiert sein auf einem Instrument. Wir zeigen ihnen, dass wir da, wo wir uns gerade befinden, einfach anfangen können mit dem, was uns umgibt. Ab und an arbeiten wir auch mit Hörminuten und führen klassische Werke ein, zum Beispiel von John Cage, um auch einen Horizont von Möglichkeiten aufzumachen. Wir haben in einem Projekt sechs bis sieben Doppellektionen, die durchgetaktet sind, und von daher ist das Experimentelle eingebettet in ein strukturiertes didaktisches Konzept. Wenn man sich selbst diesen Rahmen schafft, hat man die Freiheit zu beidem.
Foto: M.C.
Stefan Winter. In Kompositionen von John Cage geht der Klang oft auch in die Raumgestaltung. Die ORLANDOviols, ein Viola da Gamba Quintett, hatten zum Beispiel für die Aufführung eines Stücks von John Cage einen Lautsprecherring gebaut, das Publikum saß innen und die Musiker:innen außen. Gibt es bei euch eine Tendenz, Ideen, Überlegungen, Assoziationen zur Gestaltung von Räumen mit einzubeziehen?
Thomas Jacobi. Wir sagen den Kindern und Jugendlichen in der Schule: „Nimm einmal das Objekt hier, konzentriere dich darauf, finde die verschiedenen Flächen, mit denen du arbeiten kannst, finde eine Landschaft von Klangerzeugung. Und jetzt tut ihr euch zusammen, vielleicht habt ihr die gleiche Art von Objekt, oder ganz verschiedene - versucht einmal, daraus ein Gewebe aufzubauen.“ Wir arbeiten tatsächlich mit räumlicher Aufstellung, es gibt Klangparcours, an denen wir entlanggehen, dann kommt eine besuchende andere Klasse, die mitläuft, ab und an kommt auch etwas Theatralisches herein. Wir sind im Moment dabei, diesen konkreten Sprung zu planen und zu organisieren, und die Digitale Bühne ist für uns ein Medium, das uns dabei unterstützt, mehr szenografische Elemente hereinzunehmen, Leinwände, Projektionen, verschiedene Lautsprechergruppen. Vielleicht steht jemand da und raschelt nur mit Papier, und jemand anders spielt eine Trombone, in der Watte steckt. Das wird bei uns intensiv diskutiert zur Zeit.
Stefan Winter. Wie ist das Feedback der jungen Menschen in euren Projekten?
Thomas Jacobi. Meine große Überraschung war, wie unkompliziert Kinder und Jugendliche akzeptieren, in einem kreativen Raum zu sein. Sie laufen entlang, klopfen Objekte ab und merken plötzlich, dass die ganze Welt klingt und sie einen neuen Zugang dazu haben. In einem Projekt haben wir in einem Stadion Objekte im Tor aufgehängt, und Musik machen hieß jetzt, diese Instrumente zu treffen. Wir haben eine lebendige Partitur aufgestellt: wer versucht, welches Objekt zu treffen?
Johanna Pärli. Ich bin Kontrabassistin, komme aus dem Jazz und bin in der Musikvermittlung mit Klassen seit Oktober dabei. Für Tönstör habe ich die Digitale Bühne ausgetestet und beginne sie jetzt einzusetzen. Ich habe gerade mit einer Gymnasiumsklasse Instant Composing gemacht, die jungen Menschen haben viel Selbstvertrauen und viel Mut mobilisiert, sie haben sich sehr exponiert, auch als sie einer anderen Klasse die selbst komponierten Klänge präsentiert haben.
Stefan Winter. Ich kann mir vorstellen, dass die Musik für junge Menschen auf allen Klassenstufen ein Weg ist, sich auszudrücken und die Welt und sich selbst darin noch einmal ganz neu zu entdecken. Kinder und Jugendliche, die sich verbal vielleicht nicht trauen, aus sich herauszugehen, schaffen es manchmal eher im künstlerischen Medium.
Thomas Jacobi. Bei jedem zweiten bis dritten Projekt haben wir von den Lehrer:innen das Feedback, dass sie erstaunt sind, wie zwei oder drei Schüler:innen in der Klasse plötzlich ganz anders hervortreten. Sie sind selbstbewusster, konzentrierter und zeigen Fähigkeiten, die sie vorher nicht ausgestellt haben. Kunstprojekte, wie wir sie anbieten, öffnen einen zusätzlichen Raum, der manchmal in der Schule nicht gegeben ist.
Stefan Winter. Wie sind eure Praxiserfahrungen mit der Digitalen Bühne?
Johanna Pärli. Wir haben sie im Team getestet. Ich selbst habe zu Hause keine sehr gute Internetverbindung, aber ich konnte mit der Digitalen Bühne Musik machen und habe auf dem Kopfhörer die Gesangsstimme ganz nah gehört. Für mich war die Hürde nicht groß, ich habe mich schnell hineingefühlt, und meinem Musiker:innen-Umfeld ging es ebenso. Aber es gab auch andere Generationen, die aus ganz praktischen technischen Gründen online nicht so gut miteinander musizieren konnten. Man muss die Menschen abholen und die technische Seite gut organisieren.
Stefan Winter. Über den Kopfhörer höre ich die anderen, die mit mir im Audioraum der Digitalen Bühne sind, näher und klarer, es ist eine andere Konzentration auf das Hören, die durch die Technik entsteht. Kann diese neue Hörerfahrung auch im Unterricht zu einem Mehrwert führen?
Johanna Pärli. Die Kinder sind immer in einem lauten Umfeld, mit der Digitalen Bühne können sie einen neuen Fokus im Hören lernen, ein anderes Wahrnehmen. Ich glaube, dass es ein sehr intimes musikalisches Erlebnis werden kann. Es gab umgekehrt auch die Kritik, dass wir in der digitalen Probe nicht das normale akustische Setting haben, aber die Digitale Bühne bietet ja etwas anderes, das den gewohnten akustischen Raum ergänzen und nicht ersetzen soll.
Teil 2 des Gesprächs erscheint im Newsletter Januar 2023.