Backstage: ORLANDOviols (Teil 1)

Fee Altmann und Stefan Winter im Gespräch mit Hille Perl und Giso Grimm über musikalische Experimente und die Technik der OV-Box

Hille Perl ist Professorin für Viola da Gamba an der Hochschule für Künste Bremen und gibt international Konzerte mit verschiedenen Ensembles. Mit Frauke Hess, Júlia Vető, Marthe Perl, Claas Harders und Giso Grimm bildet sie die ORLANDOviols, ein Ensemble, das sich der „alten Musik“ des 16. und 17. Jhds. ebenso widmet wie den Kompositionen von John Cage oder der Minimal Music von Steve Reich. Aus der experimentellen Arbeit der ORLANDOviols heraus entwickelte Giso Grimm, der als Physiker an der Universität Oldenburg lehrt und forscht, die ovbox. Die ovbox ist eine der drei technischen Versionen der Digitalen Bühne – sie gibt Gruppen und Ensembles die Möglichkeit, von verteilten Orten aus online gemeinsam zu proben und aufzutreten.

Stefan Winter. Nicolas Harnoncourt hat bekannte Kompositionen aus der Renaissance und dem Barock „gegen den Strich“ rekonstruiert und aufgeführt, so dass man den Eindruck hat, da kommt ein ganz anderes Klangprofil zum Vorschein. Ist dieses neue Entdecken auch ein Teil Ihrer Faszination, wenn Sie „alte Musik“ spielen und aufführen?

Hille Perl. Harnoncourt und andere hatten festgestellt, dass die Musik früherer Epochen im 19. Jhd. in Vergessenheit geraten ist, weil sie nach anderen Gesetzmäßigkeiten aufgebaut war. Wenn man nur vom Notentext ausgeht, fehlt die Hälfte der künstlerischen Information, die man braucht, um ein Stück zum Beispiel von Monteverdi aufzuführen. Zur Zeit von Monteverdi entwickelt sich der Basso Continuo, in der Partitur gibt es eine Basslinie, unter der ab und zu eine Ziffer steht – man hat nur einen Ton und muss vier bis sieben andere dazu spielen, aber darin liegt auch eine große Freiheit. Die ORLANDOviols arbeiten mit einem aufführungspraktischen Ansatz, aus einem künstlerischen Interesse: Wir versuchen nicht historisierend, diese Musik in ihre alten Kontexte zu stellen – viel davon war Gebrauchsmusik für Funktionen, die es heute nicht mehr gibt, zum Beispiel Tanzmusik für eine vergangene Tanzkultur. Wir versuchen, die „alte Musik“ in Kontexten von heute zu erfahren, und dafür lassen wir uns gern auf neue Technologien ein.

Giso Grimm. Wir versuchen, die Struktur, die in dieser Musik liegt, in eine räumliche Struktur zu projizieren, um dem Publikum eine weitere Dimension des Zugangs zu geben. In unseren Konzerten sitzt das Publikum in der Mitte, umgeben von einem Lautsprecherring, und außerhalb davon sitzen wir in einem Pentagon oder einer anderen Figur. In diesem Set-up experimentieren wir mit Distanz und Nähe, mit akustischen Effekten, und dafür haben wir ein In-Ear-Monitoring System entwickelt.

Hille Perl. Wir waren im Raum so weit auseinander, dass unsere Nähe und Kommunikation nur akustisch über die Monitore laufen konnte.

Stefan Winter. Diese Art zu experimentieren erinnert an John Cage oder an die ersten Industrial Bands, die auch viel mit räumlichen Verteilungen und akustischen Systemen experimentiert haben.

Giso Grimm. Wir haben auch einige Stücke von John Cage und Steve Reich im Programm. Im experimentellen Umgang mit zeitlichen Strukturen, mit harmonischen Strukturen, die wir dann in den Raum projizieren, ist ein Stück von John Cage für uns genauso intensiv und wichtig wie ein Stück aus der Renaissance. Ich finde es faszinierend, dass zum Beispiel eine englische Phantasie von Mr. Picforth aus dem 16. Jhd. in ihrer harmonischen und zeitlichen Struktur manchen Stücken von Steve Reich sehr ähnlich ist.  

Stefan Winter. Sie spielen diese Musik über viele Jahre, experimentieren damit in verschiedene Richtungen, und dann kommen wir im März 2020 in den ersten COVID Lockdown. Jetzt können die ORLANDOviols nicht mehr zusammen spielen, und in der akuten Not erfinden Sie die ovbox.

Giso Grimm. Die ovbox ist ein Weg, wie man das In-Ear-Monitoring über das Internet verteilen kann. Als wir in den Lockdown gingen und unsere Auftritte abgesagt wurden, habe ich versucht, mit der Box eine Möglichkeit zu schaffen, wie wir online zusammen spielen können. Am Anfang war die Technik schwierig zu bedienen, aber wir haben daran weiter gearbeitet, wir hatten den Wunsch, die Box einfacher zu machen. Bei Softwareprojekten ist es mir wichtig, Wissen und Erfahrungen zu teilen, deshalb habe ich die ovbox von Anfang an als Open Source Projekt gedacht.

Fee Altmann. Wenn ich die ovbox nutzen möchte, dann muss ich schon ein bisschen technisches Verständnis mitbringen – ich muss den Raspberry Pi Minicomputer zusammenstecken, ich muss das Betriebssystem aus dem Internet herunterladen und auf eine SD-Karte aufspielen …

Giso Grimm. Man muss sich darauf einlassen wollen. Wir haben natürlich versucht, eine möglichst genaue Dokumentation zu schreiben, in die viele Rückmeldungen eingegangen sind. Wenn man der Anleitung Schritt für Schritt folgt, kann man die ovbox ohne Schwierigkeiten nutzen. Es gibt mittlerweile auch eine Community, wo man sich Hilfe holen kann. Die Box wird von den Gambisten viel genutzt, von professionellen wie Amateurmusikern.

Fee Altmann. Die ovbox hat nicht nur eine minimale Latenz, sie gibt dabei auch das Klangbild einer Gambe wieder, ohne dass etwas verloren geht.

Giso Grimm. Die ovbox hat keine Datenkompression und keine Störgeräusch-Unterdrückung eingebaut – auf anderen Übertragungswegen führt beides dazu, dass der Instrumentenklang sehr stark gestört wird. Die Kernidee der ovbox ist, das reine, unverarbeitete Mikrofonsignal in einer hohen Qualität zu übertragen. Das ist für die Gamben gut, die obertonreiche Instrumente sind, aber natürlich auch für alle anderen Instrumente. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Wiedergabe. In einer Zoom-Übertragung hören wir uns alle immer nur aus einer Richtung, und wir können nicht durcheinander sprechen. In der ovbox schaffen wir ein räumliches Klangbild: Wir sitzen virtuell in ein und  demselben Raum im Kreis und können uns aus unterschiedlichen Richtungen hören, und so können wir auch transparenter miteinander musizieren. Es ist ein 3D Audio-Klangbild.  

Hille Perl. Ich habe viele CD Aufnahmen gemacht und dabei mit der Zeit gelernt, das als Realität zu akzeptieren, was das Mikrofon aufzeichnet, und nicht das, was ich als Klangbild zu hören glaube. Wenn ich mich über die ovbox höre, dann kann ich mich darauf verlassen, dass ich die Töne so höre, wie sie klingen, und nicht so, wie ich denke, dass sie klingen. Und wenn wir uns auf diesen virtuellen Klangraum einlassen, dann öffnet sich für mich als Musikerin wie auch für die Zuhörer:innen eine andere Dimension im Verständnis zum Beispiel des Kontrapunkts, den ich jetzt durchhören kann, weil ich im Raum verschiedene Richtungen habe. Ich kann die Stücke tatsächlich noch einmal anders wahrnehmen. Ich lerne, anders zu hören.

Teil 2 des Gesprächs erscheint im Newsletter März 2022 und kann hier gelesen werden.

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